Werkeinführung

Text Elisabeth Grossmann

Leere und Fülle

Auf die ersten Anfänge in der freien Kunst folgt mit zunehmender Erfahrung die Erkenntnis, dass die künstlerische Ausrichtung zukünftig in der Auseinander-setzung mit der konstruktiven und minimalistischen Bewegung zu situieren sei. Ende der 70er Jahre entwickelt Heidi Künzler aus diesem Bestreben heraus eine erste Serie von Radierungen in Schwarz/Weiss, in denen die Teilung der Fläche durch den Eingriff der Linie zur Darstellung kommt. Fläche und Volumen unter der bestimmenden Thematik von Fülle und Leere sind seither ihr Arbeitsbereich. Konsequenterweise wird für deren Erforschung die Arbeit in Serie gewählt; durch ein einheitliches Thema verbunden oder auch durch die strikte Repetition desselben Themas bedingt, ist das Werk im Bereich der Druckgrafik, des Leinwandbildes, des Wandobjekts oder auch der Installation, mit wenigen Ausnahmen, auf die spannungsreiche Mehrteiligkeit angelegt.

Wahrnehmungsschulung

Subtilität in der Verpflichtung zur Wahrnehmungsschulung manifestiert sich in Künzlers Werk. Ob sich in den einzelnen Werken eine sukzessive Verlagerung der Proportionen ereignet oder ob eine einzelne Konstellation mehrfach repetiert wird, so steht dahinter Künzlers Einsicht, dass die sensuelle Erfahrung vor allem durch subtile Eingriffe herausgefordert wird. In dieses Verständnis wird zum Faktor Werkaufbau auch die Stellung der Farbe mit einbezogen. Seit der Verlagerung auf die monochrome Farbgebung, welche das Werk der letzten Jahre bestimmt, kommt der Farbe eine primäre Bedeutung zu.
Künzler beschränkt sich zu Schwarz, Weiss und Grau auf die klassischen Primärfarben Rot, Gelb und Blau und setzt sie nicht zuletzt auch nach wahrnehmungsphysiologischen Gesichtspunkten ein. So entwirft sie für einen Auftrag Kunst + Bau eine Serie von roten Quadratbildern, die als energetisches Fries den schlichten weissen Raum akzentuieren. In einem vorerst nur gedanklich vollzogenen Konzept, käme ein monumentaler roten Quader in einen Durchgang zu stehen; durch das aktive Rot verstärkt,würde sein Volumen die Veränderung der architektonischen Proportionen der Räume nach sich ziehen. Wie sehr die Empfindung von Volumen durch die Farbe mit bestimmt wird, zeigt Künzler in einer Serie neuerer Wandobjekte. Sie bestehen aus jeweils vier identischen vertikalen Körpern, die durch einen regelmässigen Abstand von einander getrennt sind. Werden die Objekte, wie Künzler es vorzieht, in der Gruppe präsentiert, so scheinen sie trotz ihres identischen Auf-baus, allein durch ihre Farbgebung, etwa ein Blau, ein Rot oder ein Gelb, ein unterschiedliches räumliches Gewicht einzunehmen.

Kunst und Raum

Mit solch präzisen Ueberlegungen und Konzeptionen zeigt sich Künzler als Künstlerin, die sich nuanciert mit räumlichen Dimensionen auseinandersetzt. Auch wird das Werk stets auf die architektonische Situation abgestimmt; die zentrale Thematik von Leere und Fülle dehnt sich jeweils auf den umgebenden Raum aus. Diese Haltung befähigt die Künstlerin nicht nur zur fundierten Konzeption traditioneller Ausstellungen, sondern auch zur situativ bedingten Installation und zu Kunst + Bau. Kunst und Architektur gilt es in Relation zu setzen, sowohl für eine temporäre Inszenierung als auch eine permanente Intervention. So, wie die konstruktiven Künstler seit jeher nicht nur für ihr Werk, sondern auch dessen Präsentation verantwortlich zeichneten, versteht auch Heidi Künzler ihre künstlerische Arbeit im übergreifenden Sinn. Zur Qualität des Werks kommt somit die Ueberlegtheit der Inszenierung hinzu. Damit reduziert sich die Gestaltung nicht allein auf das künstlerische Tun, sondern bezieht zusätzlich das Moment der Begegnung von Mensch und Kunst im Raum mit ein.

Elisabeth Grossmann
Kuratorin Haus Konstruktiv Zürich
August 2004